Unser Mitglied Frau Dr. Jonna Struwe hat uns diesen Beitrag zur Verfügung gestellt. Sie berichtet auf der Grundlage Ihrer eigenen Erfahrung, die sie in England machte, als Ihr Mann dort vier Jahre lang arbeitete und sie dort ihr Kind bekam.
Letzten Herbst sah ich die Bilder der vielen ankommenden Flüchtlinge. Immer wieder fielen mir vor allem die Mütter auf mit den Allerkleinsten. „Was müssen sie Unvorstellbares leisten“, schoss es mir eins ums andere Mal durch den Kopf. „Wie kann man trösten, wenn man selbst voll Kummer ist?“
Ich sortierte ein paar Dinge aus meinem Kleiderschrank aus und brachte sie zur nahegelegenen Unterkunft. Mehr fiel mir nicht ein.
In der Unterkunft empfing man mich freundlich; eine Mitarbeiterin des AGDW e.V. warf einen Blick in die Tüten und meinte: „Das könnte unsere neueste Mama vielleicht brauchen. Wollen Sie sie kennen lernen?“ Ich war zögerlich. Fünf Minuten später stand ich vor Aisha mit ihrem neugeborenen Sohn, ein Frühchen. Er kam kurz nach der Ankunft per Notkaiserschnitt zur Welt in der 32. Woche. Aishas erstes Kind, keinen Vater dazu – sie war allein. „Kaum in einem neuen Land und dann so ein Erlebnis“, war mein einziger Gedanke.
Ich zögerte nicht mehr. Von da an begleitete ich Aisha zu ihren Kinderarztterminen und übersetzte für sie ins Englische, das sie in ihrer Heimat Nigeria gelernt hatte – so kamen meine ganzen Vokabeln von Impfung über Fieberkrampf bis Keuchhusten noch einmal zum Einsatz. Es war das mindeste, was ich tun konnte.
Big Mama
Inzwischen ist Aishas Sohn ein Jahr alt und macht sich prächtig. Seine Mama lernt Deutsch und ihre Aussichten sind gut. Manchmal nennt sie mich Big Mama, obwohl wir beide gleich groß sind, aber in ihrer Heimat bezeichnet man so die Omas oder Tanten, die für die jungen Mamas da sind. Für ihre Arzttermine mit dem Kleinen braucht sie mich nicht mehr. Aufgabe erfüllt?
Während ich darüber nachdachte, schrieb ich gleichzeitig in meinem Blog für die „Expat-Mamas“ darüber, wie wichtig es für uns alle in der neuen Heimat ist, eine sinnvolle Aufgabe zu finden, um uns angekommen zu fühlen, weniger fremd. Und mir wurde immer bewusster, was die eigentliche Herausforderung für Aisha ist: einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Und jemanden zu haben, der ihr eine erste Tür dazu öffnen würde. Ich schrieb den Post „Wer willst Du sein?“ und fragte Aisha: „Wenn du die Wahl hättest: was möchtest du gerne machen?“ „Eine Schneider- oder Friseurlehre.“ Ich trug ihre Antwort ein paar Tage mit mir herum.
Eine erste Tür
Ich kenne dieses Land, diese Stadt, ich bin vernetzt, war es nicht meine Pflicht, zu versuchen, eine Tür für sie zu öffnen? Trotzdem war ich schüchtern, andere um einen Gefallen zu bitten. Mein Engagement musste ja nicht anderer Leute Engagement werden, oder? Ich wusste, Aisha war freundlich und zuverlässig, sie sprach Englisch – aber würde sie die Arbeitsanforderungen erfüllen? So gut kannte ich sie auch nicht. War es nicht ein Risiko, sie jemandem zu empfehlen? Andererseits: wenn ICH nicht mutig wäre, wer dann? Ich fasste mir ein Herz – und lief in offene Arme. Mein Friseur bot ihr eine Woche Schnupper-Praktikum an, auch ein Wagnis für ihn, denn Praktikanten wie Aisha kosten viel Zeit im Arbeitsalltag. Aber wie sagte er: „Jeder verdient einen Start ins Leben!“ Und seine Referenz wäre ohne Zweifel eine Eintrittskarte in den Beruf. So wurde unser Dreierpakt beschlossen: Er gab Aisha eine Chance, den Beruf kennen zu lernen; Aisha trennte sich erstmals von ihrem Sohn und ich war Babysitter für eine Woche. Einzige Grundlage: Vertrauen in den anderen. Wir waren alle aufgeregt und wurden alle belohnt. Win-Win nannte man das in meinem alten Job.
Mir ist klar, dass diese Woche nur ein erster Schritt auf einem sehr langen, steinigen Weg sein konnte. Aber als ich an jenem Freitagabend nach dem Praktikum Aishas strahlendes Gesicht sah, die liebe Abschiedskarte und ihr Zeugnis las, das sie bekommen hatte, und ein zufriedenes Baby auf meinem Sofa schlief, da war ich mir sicher, dass es immer wert ist, den ersten Schritt zu machen, auch wenn man nicht weiß, wie es danach weitergeht. Mein Leben ist immer noch Welten von Aishas Erfahrungen entfernt. Aber ich glaube, wenn man einmal selbst im Ausland gelebt hat, dann kann man nicht mehr wegschauen. Wir wissen, was es heißt, sich fremd zu fühlen. Wir wissen, wie sehr man darauf angewiesen ist, dass andere auf einen zugehen, geduldig sind, wenn man die Sprache nicht richtig beherrscht, freundlich lächelnd helfen, wenn man nicht weiterweiß. Wir wissen alle, wie gut es tut, wenn in der Fremde jemand auf uns zukommt.
Wie sagte Hermann Hesse einst so schön: Kein Mensch fühlt im anderen eine Schwingung mit, ohne dass er sie selbst in sich hat.